„Das Ausmaß der Zerstörung ist schrecklich“, berichtet Mikhail Malyutenko, der aus Saltiwka, einem Stadtviertel der ostukrainischen Großstadt Charkiw, stammt, in einer E-Mail an den Verein Spiel des Jahres. „Die Russen zerstören absichtlich die Wohngebäude und töten Zivilisten, einfach weil sie es können.“ Am 1. Mai wurde auch das Haus, in dem Malyutenko wohnte, von mehreren russischen Raketen getroffen.
Mikhail Malyutenko hatte eine große Brettspielsammlung und informiert als „magic_geek“ auf Instagram über sein Hobby, aktuelle Brettspiele und die kulturelle Bedeutung des Spielens. Jetzt hat er im zentralukrainischen Krementschuk Zuflucht gefunden, denn Saltiwka ist nur noch eine Geisterstadt. In der Bibliothek von Krementschuk hat er einen Spieletreff für die Geflüchteten initiiert. Brettspiele würden den Menschen helfen, Kontakte zu knüpfen und ins Leben zurückzukehren, meint Malyutenko. Spiele dafür hat er unter anderem vom Verein Spiel des Jahres erhalten, den er um Hilfe gebeten hat. Denn seine Sammlung, die sämtliche Preisträger seit 1979 umfasste, hat er verloren.
Tatsächlich gebe es ukrainische Verlage und Spiele in ukrainischer Sprache, erläutert Mikhail Malyutenko. Viele Titel fehlten aber, darunter „Catan“, „Carcassonne“ und „Die Legenden von Andor“. Sie gebe es leider nur von russischen Verlagen, die sich zwar die Rechte für eine Veröffentlichung auf Ukrainisch gesichert hätten, diese aber nicht nutzen. Malyutenko geht davon aus, dass hinter diesen „schmutzigen Praktiken“ die Vorstellung eines angeblich gemeinsamen russischen Kulturraums steckt. Er kritisiert die Gleichgültigkeit auch einiger deutscher Verlage, die teilweise die Lizenzgeber sind.
„Ukrainische Verlage werden daran gehindert, zu wachsen, sich zu entwickeln und Geschäfte zu machen.“ Nichtdestotrotz hätten sie Hunderte Spiele an Notunterkünfte im ganzen Land gespendet. „Selbst unter schrecklichen Bedingungen ohne Tageslicht leben die Menschen weiter, und analoge Spiele helfen dabei sehr“, ist Mikhail Malyutenko überzeugt. „Kingdomino“, „Codenames“, „MicroMacro Crime City“, „Krasse Kacke“, „Just One“, „Dixit“ gehörten zu den Spielen, die in den Schutzräumen angekommen seien.
„Ich war so deprimiert“, sagt der 33-Jährige. „Brettspiele sind ein Lichtblick in der Dunkelheit, in der wir uns jetzt alle gegen unseren Willen befinden.“ Malyutenko liebte schon immer Spiele, die es Menschen ermöglichen, zu interagieren, zu lachen und eine tolle Zeit zu haben. Mit dem von ihm beobachteten Trend hin zum „Multiplayer Solitär“ oder gar zum Solomodus kann er nichts anfangen.
Auch wenn er nicht mehr in unmittelbarer Nähe der Grenze zur russischen Föderation wohnt, sind die Terrorangriffe des Putin-Regimes weiterhin eine Bedrohung für Malyutenko und alle anderen dort lebenden Menschen. Von U-Booten abgefeuerte Raketen können Tausende Kilometer weit entfernt für Zerstörung sorgen. Der Krieg sei für ihn und seine Familie die härteste Herausforderung in ihrem Leben, er habe schlimmste Sachen gesehen.
Auch an dem Wochenende, als das Spiel des Jahres 2022 verkündet wurde, gab es wegen eines Raketenangriffs Luftalarm. Mikhail Malyutenko hat „Cryptid“, „Dune Imperium“ und „Living Forest“ mit in den Bunker genommen. „Werde ich erfahren, was als Kennerspiel des Jahres gewinnt, oder wird es der letzte Tag meines Lebens sein?“, beschreibt er, was er an dem Tag gedacht hat.
Harald Schrapers