Spiel des Jahres 1981: FOCUS von Sid Sackson
Gespielt wird auf einem besonders gestalteten Dame-Brett mit abgeschnittenen Eckfeldern. Die Spielsteine stehen in Zweiergruppen dicht an dicht nebeneinander, sodass vom ersten Zug an Gegnerkontakt besteht. Durch Aufspringen können Türme aus eigenen und fremden Steinen gebildet werden, deren Zugweite sich nach ihrer Höhe richtet. Für kürzere Züge werden die dafür nicht benötigten Steine kurzerhand zurückgelassen, wodurch sie nunmehr einen neuen Turm bilden.
Wächst ein Turm über fünf Steine hinaus, werden alle überzähligen Steine von unten weggenommen. Soweit sich darunter solche des Gegners befinden, scheiden diese endgültig aus. Eigene Steine dienen dagegen als Reserve und können statt eines regulären Zuges auf jedem beliebigen Feld wieder ins Spiel gebracht werden, worin ein enormes taktisches Potential schlummert.
Bei vier Teilnehmern bilden je zwei ein Team. Je nach Belieben sind offene Absprachen erlaubt oder müssen die Spieler ihre Züge stumm aufeinander abstimmen. Der Autor hat später noch Sonderregeln für drei Teilnehmer entwickelt. Danach gewinnt, wer entweder drei Steine jedes Gegners gefangen nimmt oder mindestens zehn Steine vom Brett holt, einschließlich seiner eigenen.
Die Wahl 1981
Nachdem FOCUS im Vorjahr bereits auf die damalige Auswahlliste gelangt war, gelang es ihm im zweiten Anlauf, sich gegenüber sieben Konkurrenten durchzusetzen. Darunter zwei weitere hochkarätige Denkspiele: HAVANNAH von Christian Freeling auf dem 2. Platz und WENDO (ohne Autorenangabe) auf Platz 5. Bemerkenswert, dass mit RA von Marco Donadoni ein vierter Vertreter dieses Genres mit dem seinerzeit noch vergebenen Sonderpreis „Das schöne Spiel“ ausgezeichnet wurde.
Mit guten Punktergebnissen, die damals für die Reihenfolge der Nennungen zugrunde gelegt wurden, konnten sich auch das halmaverwandte OMBAGI von Reinhold Wittig sowie RÄUBER UND GENDARM von Rudi Hoffmann, ein vom Bluff lebendes Fangspiel, platzieren. Auch diese beiden gehörten zu den abstrakten Spielen ohne jedes Zufallselement.
Den Kontrast hierzu bildete CAN’T STOP, ein Leckerbissen für Zocker, wie FOCUS ebenfalls von Sid Sackson erdacht. Desgleichen das pfiffige Wortspiel QUIBBIX von Gilbert Obermair, einem früheren Gründungsmitglied der Jury. Auf Platz 8 fand sich schließlich das Lauf- und Gedächtnisspiel SAGALAND von Alex Randolph und Michel Matschoss wieder, das erst nach und nach die Herzen der Juroren zu erobern wusste, dafür dann aber wie sein Vorgänger im Folgejahr sogar den Sprung aufs Siegertreppchen schaffen sollte.
Die Gründe
Den Ausschlag dafür, FOCUS auf den Schild zu heben, hatte gegeben, dass es mit einem geringen Regelwerk ein hohes Maß an Komplexität erreicht, in jeder Besetzung großes intellektuelles Vergnügen bereitet und mit seiner flachen Schachtel auch optisch zu gefallen weiß. Dass es sich um ein reines Denkspiel handelt, hielt die seinerzeit diesem Genre ohnehin stark zugeneigte Jury offenbar für keinen Hinderungsgrund, es einem breiteren Publikum nahe zu bringen.
Da es nicht auf zwei Teilnehmer beschränkt ist und für viele sogar gerade in der Teamvariante seinen eigentlichen Reiz entfaltet, erschien es nach dem genialen Wettlaufspiel HASE UND IGEL und dem besonders massentauglichen RUMMIKUB in den beiden Vorjahren als ein würdiger Preisträger, mit dem sich zugleich die Spielelandschaft auch in seiner speziellen Richtung abstecken ließ.
Die Geschichte
FOCUS ist bislang das einzige abstrakte Denkspiel geblieben, das den Hauptpreis hat erringen können. Es steht in der Tradition von LASKA, das der frühere Schachweltmeister Emanuel Lasker vermutlich aus dem russischen BASCHNI entwickelt hat. Sid Sackson will allerdings auf die Spielidee durch TRICOLOR gekommen sein, das freilich seinerseits ein LASKA-Ableger sein dürfte und entgegen der Angabe auf Schachtel und Anleitung nicht von Valentin Siena, sondern von Maurice Kraitchik stammt.
Der Ochsentourstrategie des Mathematikers Paul Yearout in Form von Symmetriezügen des Nachziehenden ist der Autor mit zwei Vorschlägen begegnet. Entweder wertet man ein solches Vorgehen als einen Sieg für den Startspieler, oder beide Teilnehmer tauschen zu Beginn der Partie je einen ihrer Steine gegen einen des Gegners aus, ohne dadurch eine neue Symmetriestellung zu kreieren.
Die Verlage
Bei Parker war FOCUS bis 1987 im Programm. 1995 erlebte es bei Kosmos eine Neuauflage, die sich immerhin auch sechs Jahre lang halten konnte. Ein direkter Einfluss auf die Entwicklungen anderer Spielautoren oder die Veröffentlichungspolitik der Verlage haben sich nicht feststellen lassen.
Es blieb dem Belgier Kris Burm vorbehalten, für sein selbst verlegtes Denkspiel DVONN die Idee wieder aufzugreifen, durch Aufspringen Türme aus fremden und eigenen Steinen zu bilden, deren Höhe die Zugweite bestimmt. Wie gekonnt ihm dies gelungen ist, lässt sich unschwer daran ersehen, dass auch er damit 2002 immerhin auf die Auswahlliste gelangt ist.
Der Autor
Sid Sackson (1920 – 2002) war neben Alex Randolph (1922 – 2004) einer der weltweit renommiertesten Spielautoren. Sein Œuvre umfasst solche Evergreens wie ACQUIRE, SLEUTH und BAZAAR / BIERBÖRSE. Insgesamt brachte er es auf über 50 Veröffentlichungen. Auch auf dem Gebiet der Spielliteratur hat er mit seinem Buch Spiele anders als andere (Hugendubel, 1981) Maßstäbe gesetzt.
Jochen Corts (Januar 2006)