Fast vier Jahre lang hat der Regisseur Hendrik Schmitt Spieleautorinnen und -autoren begleitet, um dem Phänomen der sogenannten „German Games“ auf den Grund zu gehen. Das Ergebnis ist die 90-minütige Dokumentation „Spielerepublik Deutschland“, die auch Einblicke in die Geschichte und die Arbeit der Spiel-des-Jahres-Jury bietet.
➜ ARD-MEDIATHEK: „Spielerepublik Deutschland“
Uwe Rosenberg eilt, die Familie im Schlepptau, über den Vorplatz zum Kasseler Hauptbahnhof. Es ist kalt. Rosenberg trägt keine Jacke, aber ein Spiel unter dem Arm, „Atiwa“, eine seiner jüngeren Schöpfungen. Sein Ziel ist das Bali-Kino im Bahnhof, der – nicht zu verwechseln mit der Betontrutzburg Kassel-Wilhelmshöhe – ein Kulturbahnhof ist. Hier wird an diesem Samstagvormittag eine ganz besondere Form von Kultur präsentiert: Spielkultur. Im Rahmen des Dokfests, dem Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest, wird „Spielerepublik Deutschland“ gezeigt.
Es geht, so nennt es Moderator David Zabel, um „die schönste Sache der Welt“: Gesellschaftsspiele. Regisseur Hendrik Schmitt geht eineinhalb Stunden lang der Frage auf den Grund, wie die sogenannten „German Games“ zu einem weltweiten Exportschlager werden sollten. Und er tut es vor allem, indem er sich an die Fersen von Autoren wie Rosenberg heftet. Er zeigt, wie Familie Loth aus dem Emsland, das Team hinter Mogel-Spiele, und Frohnatur Rita Modl neue Titel zur Marktreife bringen, wie Modl mit ihrem Redakteur noch an den kleinsten Details der Schachtelillustration von „Zwergendorf“ feilt und die Loths zwischen Lagerfeuer und Familientisch für Kosmos an „My Gold Mine“ tüfteln – und wie sie im Jahr 2022 bangen und schließlich jubeln, als die Jury Spiel des Jahres Long List und Short List bekanntgibt: „My Gold Mine“ landete auf der Empfehlungsliste.
„Man kann die Geschichte der German Games nicht ohne das Spiel des Jahres erzählen“, sagt Regisseur Schmitt beim Gespräch im Foyer, das sich allmählich füllt. „Was dieser Verein, der bis heute kein Geld verdient, leistet, ist einmalig.“ Und so traf er auch Gründungsmitglied Jürgen Herz, der bei einem Kamingespräch unter Spielekritikerkollegen die Idee der Auszeichnung skizzierte. Seine Recherche zur Bedeutung des Preises führte bis in die USA, wo man ganz selbstverständlich vom „Spiel des Jahres“ radebrecht und nicht vom „Game of the Year“, wo Schmitt den Spielefan und Techmagnaten Reid Hoffman traf, Gründer von LinkedIn und Paypal, und einen Spieleladen besuchte, wo prompt ein Verkäufer seine „Lieblingsecke“ zeigt: die mit den Spielen Uwe Rosenbergs.
Schmitt besuchte die Jury bei ihrer Klausurtagung zu den Preisträgern 2022, bei der Abstimmung zwei Monate später und bei der Preisverleihung. Er ging mit auf Brettspiel-Kreuzfahrt gen Island und stürzte sich in das Getümmel der Messe in Essen. Immer ganz nah dran und doch auch mit dokumentierender Distanz. Zwei Jahre sollte der Dreh dauern. Es wurden – auch wegen Corona – beinahe vier daraus.
„Mein Hauptanliegen war es, dass man die Menschen hinter den Spielen kennenlernt“, sagt Schmitt. Daher zog er sich auf den Posten des Beobachters zurück und lässt vor allem seine Protagonisten zu Wort kommen. Die emotionale Bandbreite des Films ist enorm. Inka und Markus Brand, die Erfinder von „Exit“, bilden sehr sympathisch und mit fröhlichen Frotzeleien den heiteren Rahmen. Anrührendes Zentrum sind die Begegnungen mit Klaus Teuber, dem im April verstorbenen Autoren von „Catan“. Sie zeigen in großer Nähe die stille Größe des bescheidenen Superstars der Spieleszene. Die metaphorische Bildsprache passt, wenn Teuber auf dem Feldweg zwischen den Getreidefeldern spaziert wie auf einem Catan-Spielplan.
Historische Aufnahmen, nicht selten von unfreiwilliger Komik, runden den Film ab. Wenn etwa Werner Schöppner, der Autor von „Malefiz“, in einer Fernsehsendung freimütig von der Entstehungsgeschichte erzählt: Ihn habe auf dem Klo der Blitz getroffen. Und der Moderator eilig souffliert: „Ein Geistesblitz.“
Ein Geistesblitz liegt auch dem Film zugrunde: Die Idee kam Schmitt, als er daheim auf seine bescheidene Spielesammlung blickte. „Catan“, „Risiko“, ein paar andere Klassiker, keine zehn Stück. „Ich habe mich gefragt, wer die Autoren sind.“ Anfangs habe er die ganze mehrtausendjährige Geschichte des Spiels erzählen wollen. Schnell wurde klar, dass das jeden Rahmen sprengen würde.
Ein Anfang ist gemacht. Und es wird auch so deutlich, dass ein Spiel immer über die Partie als solche hinausweist. Für Dokfest-Moderator Zabel ist „Spielerepublik Deutschland“ der „Spiel-Film des Jahres“. Er ist sicher: „Spiele habe das Potenzial irgendwann die Welt zu retten.“ Weil sie zeigen, wie man friedlich in Konkurrenz zueinander tritt.
Rosenbergs Kinder, auch das zeigt der Film, haben übrigens erst während des Drehs realisiert, dass ihr Vater nicht etwa nur einem seltsamen Hobby nachgeht, sondern in der Spieleszene ein Weltstar ist. Nach Ende des Films stehen sie mit dem Drehteam und anderen Gästen vor der Leinwand und nesteln an ihrer Kleidung, schüchtern, sichtlich stolz auf ihren Vater und auch ein bisschen ehrfürchtig. „Spielerepublik Deutschland“ öffnet Augen: nicht zuletzt auf die schönste Sache der Welt.
Stefan Gohlisch