Suche
Suche Menü

Empfehlungsliste Kennerspiel des Jahres: Mischwald

Was juckt’s die stolze Eiche, wenn sich der Eber an ihr reibt? In der Realität: mutmaßlich nichts. In „Mischwald“? Auch nichts. Die Eiche strebt in diesem Kartenspiel vor allem danach, in einem gemischten Wald mit vielen anderen Baumarten zu stehen. Dann zählt sie stolze zehn Punkte. Das Wildschwein ist übrigens auch nicht speziell auf Eichenstämme fixiert. Sondern auf Frischlinge. Ist mindestens einer im Wald, bringt das pro Schwein ebenfalls fette Zehn.

Ja, und mag denn auch irgendwer Eichen? Klar, die Eichhörnchen. Sie dürfen zwar in den Wipfeln aller Bäume platziert werden. Aber nur auf Eichen horten sie flinke fünf Zähler.

Kurzum: Alles in diesem „Mischwald“ (von Kosch, erschienen bei Lookout Spiele) ist auf verschiedene Weise miteinander verwoben. Wie in einem echten Ökosystem. Und das ist nur eine der vielen Qualitäten des Kartensammelspiels. Bereits das Thema ist großartig gewählt. Indem wir heimische Tiere und Pflanzen ausspielen, die wir kennen oder von denen wir zumindest schon gehört haben, ist der emotionale Bezug zum eigenen Tun viel höher als in einer ausgedachten Welt oder abstrakten Spielumgebung.
Vieles ist thematisch obendrein absolut schlüssig: Dass etwa Kröten und Beeren unten am Boden und Vögel in die Baumkronen gespielt werden, dass Füchse für Hasen punkten oder Wölfe für Rehe. So und nicht anders hätte man das auch erwartet. Und das Spiel löst es genauso ein.
Die Grafik hilft dabei. Alle Karten außer Bäume sind zweigeteilt. Entweder vertikal wie etwa Luchs und Waschbär. Oder horizontal wie Schillerfalter und Fliegenpilz. Diese Karten platziere ich, indem ich sie halb unter einen meiner Bäume schiebe. Als Luchs oder Waschbär. Als Falter oder Pilz. Immer nur eins von beidem. Die jeweils andere Hälfte wird durch den Baum verdeckt.

Die Informationsmenge ist enorm

Ohne Bäume geht es also nie. Und auch das ist wieder realistisch und logisch. Im Ökosystem Wald schaffen die Bäume Lebensraum und locken andere Arten an. An jeden Baum passen vier Karten, spätestens dann muss ich den nächsten auslegen.
Bei all dem gelten unweigerlich Spielregeln. Symbole zeigen, wie viele andere Handkarten ich als Bezahlung abwerfen muss, um Kastanie, Steinmarder oder Feuersalamander in meinem Wald anzusiedeln. Weitere Symbole zeigen, ob ich sofort eine Belohnung dafür bekomme oder unter welchen Bedingungen. Manchmal soll ich nicht mit irgendwelchen Karten zahlen, sondern mit ganz bestimmten.

Die Informationsmenge, die bei einer Partie „Mischwald“ verarbeitet werden muss, ist schon enorm. Oft sieht man den Wald vor lauter Symbolen nicht. Die erste Partie und vielleicht auch weitere verlaufen deshalb üblicherweise etwas stockend. „Mischwald“, so lieblich es daherkommt, ist herausfordernd. Man muss sich erst reinfinden.
Genau dieses Reinfinden ist aber auch ein wesentlicher Teil des Spielreizes. Welche Kartenkombinationen gewinnbringend sind, entdecke ich erst nach und nach. Manche Tiere oder Pflanzen, die mir anfangs unwichtig erscheinen, haben plötzlich ihren großen Auftritt. Die Erkenntnis, dass alles in der Natur seine Berechtigung hat, lockt tiefer und tiefer in den „Mischwald“ hinein.

Natur ist nicht vorhersagbar

Wer erfolgreich sein will, spielt nicht gleich aus, was er irgendwie in die Finger bekommt. Auf meiner Hand bereite ich kommende Spielzüge vor. Ich sammle Karten, die gut harmonieren. Ich sammle Symbole, die mir beim Bezahlen einen Bonus bringen. Bevor ich Wald erschaffe, bin ich also zunächst einmal Landschaftsplaner.
Sobald jedoch die dritte Winterkarte aufgedeckt wird, ist „Mischwald“ sofort vorbei. Weshalb schon beim Auftauchen des ersten Anzeichens Torschlusspanik aufkommt. So hat bei aller Strategie das Spielgefühl am Ende mehr mit Hoffen, Bangen und Spekulieren zu tun als mit Analyse und Vorausberechnung. Zu vieles ist ungewiss: welche Karten überhaupt im Spiel sind, auf welche ich Zugriff habe und wie viel Zeit mir bleibt, um sie alle auch noch auszuspielen. Natur ist nicht vorhersagbar, „Mischwald“ auch nicht. Diese Spannung in Kombination mit Tiefe und ganz viel Idyll macht es zu einem tollen Wohlfühlspiel.

Udo Bartsch