„Die ‚Spiel des Jahres‘-Auszeichnung ist der Oscar für Brettspiele“, meldete die Süddeutsche Zeitung anlässlich unserer Preisverleihung im Sommer in Berlin. Mit dem Oscar, jedenfalls dem für die bedeutendste Kategorie, wird der beste Film ausgezeichnet. Das ist eine Bezeichnung, die in der Filmbranche üblich ist. Bei der Berlinale wird der Goldene Bär ebenfalls an den besten Film vergeben.
So gesehen ist völlig klar: Die „Spiel des Jahres“-Jury zeichnet das beste Spiel aus. Wohlwissend, dass es das objektiv beste Spiel gar nicht gibt. Genauso wenig wie den objektiv besten Film.
Doch es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen dem besten Film und dem besten Spiel eines Jahres– abgesehen davon, dass die Oscarverleihung vor allem glamourös ist: Ich kann mir einen Film ganz alleine anschauen und mir mein Urteil bilden, egal, wer sonst noch im Kinosaal sitzt. Auch für den Theaterkritiker gilt, dass ein Verriss absolut legitim ist, selbst wenn der Saal bebt und es stehende Ovationen gibt. Ein Spielekritiker darf das auch, aber es fällt ihm schwer. Er wird lieber noch ein paar weitere Runden ansetzen, diesmal mit anderen Mitspielern, um sein Urteil zu überprüfen. Denn ich weiß, dass es umgekehrt völlig unmöglich ist: Ich kann ein Spiel nicht loben, wenn es sonst niemandem gefällt. Denn Spielen ist ein Gemeinschaftserlebnis. Ich teste ja keine Spiele, und schon gar nicht unter Laborbedingungen, bei denen ich mir vorstelle, ich säße gewissermaßen viermal am Tisch. Sondern ich muss raus mit dem Spiel, es muss sich in der Praxis bewähren. Wie sagt man bei uns im Ruhrgebiet? „Grau is’ im Leben alle Theorie – aber entscheidend is’ auf’m Platz“, so der Duisburger Adi Preißler, der in den Fünfzigerjahren zweimal Meister mit dem BVB wurde.
Es sind insbesondere die heterogenen Spielegruppen, die ein Spiel auf eine harte Probe stellen. Die eine Mitspielerin mag die strategische Tiefe, mein Gegenüber das Leichte und Glücksbetonte und die Dritte das thematische Erlebnis. Das sind Runden, in denen ein Spiel ächzt. Trotzdem ist das in keiner Weise mit einer Rüttelmaschine in der Haltbarkeitsprüfung der Stiftung Warentest zu vergleichen.
Das eine, objektiv beste Spiel kann es allein deshalb nicht geben, weil das morgens nach dem Sonntagsfrühstück und abends nach dem zweiten Bier ein anderes wäre. Mal habe ich drei Leute am Tisch, mal fünf, mal eher Spiel-Erfahrene, mal sind Kinder dabei. Wieviel Zeit haben wir? Das sind die Kriterien, nach denen ich aus dem Regal, in das ich die aktuellen Nominierungs- und Empfehlungslistenspiele gestapelt habe, ein Spiel herausziehe. „Das ist das Beste, was ich jetzt mit euch spielen möchte“, sage ich dann. Und nicht: „Das ist zwar nicht das beste Spiel, aber zu euch passt es.“
Ist das beste Spiel nicht das, was am meisten Kilogramm auf den Tisch bringt, die längste Spieldauer, das wertigste Material und das dickste Regelheft? Sicherlich nicht. Denn man darf Quantität nicht mit Qualität verwechseln. Viele komplexe Expertenspiele erweisen sich zwar als nette, ordentliche Geschehnisse, oft stelle ich mir anschließend aber die Frage, ob ich in derselben Zeit nicht auch zwei oder drei kürzere Spiele hätte erleben können – was mich mehr unterhalten hätte. Selbstverständlich beeindrucken mich umfangreiche Spielwelten, in die die Autorinnen und Autoren viel Aufwand investiert haben. Bewährte Elemente neu zusammenzurühren und abzuschmecken kann durchaus zu einem guten Ergebnis führen. Noch mehr fasziniert bin ich aber von denjenigen Entwicklern, die aus wenigen Zutaten ein umfangreiches Erlebnis machen und den einen Kniff erfinden, der daraus das Außergewöhnliche zaubert.
Ich werde auch im kommenden Spielejahrgang auf der Suche nach dem Besten sein. Alles andere würde mir auch gar keine Freude machen. Der fast 40 Jahre alte Auftrag des Vereins „Spiel des Jahres“ lautet, satzungsgemäß „das Kulturgut Spiel in Familie und Gesellschaft zu verankern“. Heute würde ich das andersherum formulieren – „in Gesellschaft und Familie“ – denn der Allgemeinplatz von der „Familien als Keimzelle der Gesellschaft“ ist doch arg verstaubt und beschreibt gesellschaftliche Wirklichkeit nur unzureichend. Tatsache bleibt aber: Was soll besser für das Kulturgut werben, als das beste Spiel? Das dritt- oder viertbeste? Vielleicht mögen absolute Insider der Spieleszene Verständnis für solche Verrenkungen haben. Aber wie soll ich in der Breite der Gesellschaft mit einem „Spiel des Jahres“ werben, wenn ich anschließend wortreich begründe, warum man das nicht mit dem besten Spiel verwechseln dürfe?
Als Mitglied der Jury „Spiel des Jahres“ trete ich dafür ein, für das Kulturgut Spiel selbstbewusst einzustehen, und nicht mit komplizierten „ja, aber“-Botschaften an die breite Öffentlichkeit zu treten. Dass es nicht darum geht, das objektiv unfehlbare Urteil zu vertreten, weiß ich auch. Deshalb gibt es mit dem Kennerspiel des Jahres ja noch ein zweites bestes Spiel.
Harald Schrapers