„Alle glücklichen Familien gleichen einander“, schreibt Leo Tolstoi, „jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“ Die Familie in „Nightmare“ (Noris) ist jedenfalls auf eine sehr besondere Art unglücklich: Fünf Waisen erkunden jenes Gemäuer, in dem ihre Eltern einst umkamen. An jeder Ecke lauern Tod, Grauen und dunkle Erinnerungen. Außerdem, selbstverständlich, auch ein Mörder.
„Wir starten vor dem Anwesen und entscheiden als Gruppe, welchen Raum wir erkunden möchten“, erklärt Stephan Kessler das Spiel. „Das Haus wird durch zunächst verdeckte Ortsplättchen dargestellt, die nach und nach umgedreht werden. Die Ecken der Ortsplättchen können durchsucht werden, falls sich die Gruppe darauf einigen kann. Ein zusätzliches Deck beschreibt, was dort gefunden wird. Oft erinnern sich dadurch einzelne Charaktere an Erlebnisse ihrer Kindheit. Fragmente dieser Erinnerungen kombiniert mit den Bruchstücken der Geschichte führen schrittweise dazu, dass sich der Schleier lüftet. Wir verstehen mehr und mehr, was vorgefallen sein muss. Die Aktionen zum Erforschen des Hauses sind jedoch begrenzt. Eine Uhr in der App muss nach jeder Aktion gedrückt werden – und manchmal kommt es zu einem Stromausfall.“
Thriller-Gefühle für zuhause versprächen die Macher:innen des Spieles, schreibt Kessler, „und sie gehen dabei äußerst raffiniert vor. Twists und Überraschungen sind wie in einem guten B-Movie Teil des Programms.“ Gerade der Rollenspielaspekt – jede:r der Mitspielenden hat eine Figur, deren Rolle er oder sie spielen müsse – steche hier besonders hervor: „Jede Spielgruppe kann je nach Präferenz den Rollenspielaspekt mehr oder weniger ausleben. So muss beispielsweise der Vorstellungstext enthusiastisch oder arrogant vorgelesen werden.“
„Dieses Spiel ist besonders“, schreibt Kessler, „und kann sein gewagtes Versprechen einhalten: Nervenkitzel in Reinform! Doch auch darüber hinaus ermöglichen die Spielelemente spannende Diskussionen, die in überraschende Entdeckungen und in ein fulminantes Finale münden. Die Geschichte selber ist letzten Endes arg konstruiert und nicht gerade realistisch. Dadurch polarisiert Nightmare auch. Es ist definitiv nichts für Menschen, die nach einem Film die plot holes aufzählen. Sondern es steht das Gesamterlebnis im Vordergrund.“
„‚Nightmare‘“, schließt der Krimispielexperte, „ist jedenfalls kein Alptraum.“¹
Auch im Podcast von Manuel Fritsch ist Stephan Kessler zu Gast. Zusammen mit Martina Fuchs kann sich das Trio darauf einigen, dass „Nightmare“ ein außergewöhnliches Spielerlebnis bietet. „Wir hatten ganz tolle zwei Stunden“, sagt Fuchs, „man lernt seine Mitspielenden ganz anders kennen.“ Es sei eher ein Event zum Spielen – wichtig sei, eine Atmosphäre mit schummriger Beleuchtung herzustellen. „Faszinierend, wie man in dieses Spiel reinkommen kann, wenn man sich da rein begibt“, sagt Fuchs. Das Spiel lebe davon, dass die Gruppe die Charaktere zum Leben zu erweckt.
Auch Fritsch meint, dass das Spiel sehr viel besser funktioniere, „wenn man sich auf diese Rollen einlässt und versucht zu spielen. Das ist so ein bisschen wie ein Mini-Hörspiel, das man nachspielt.“ Das Spiel lebe davon, dass die Gruppe die Charaktere zum Leben zu erweckt. „Man sitzt da so dran und hat Gänsehaut, auch, weil man nicht weiß, was passiert. Das Spiel mit Leuten zu spielen, die ein bisschen schreckhaft sind, war eine große Freude.“
Auch Kessler wiederholt sein positives Urteil: „So etwas hatte ich noch nicht“, sagt er. „Da passieren auch Sachen, die so gruselig sind, dass sie sich wirklich an Erwachsene richten.“ Die Augenbinden, beispielsweise, sagt er, lägen nicht ohne Grund bei. „Da passieren Sachen, wo wirklich dieses Thrillergefühl auf mich übertragen wird.“
Allein an der Story hat das Trio etwas auszusetzen. Für Fritsch ist sie „völlig Banane. Diese eigentliche Geschichte, die man aufdeckt, das Mysterium dahinter, das hat mich enttäuscht. Diese Geschichte dahinter ist so unlogisch.“ Allerdings betont er: „Ich möchte das Erlebnis nicht missen, das ich bis dahin hatte.“ Auch Fuchs findet die Geschichte nicht unbedingt gut, urteilt aber über das Spiel: „Ich würde trotzdem empfehlen, es zu spielen, weil ich das so noch nicht erlebt habe.“ Kessler findet dann noch versöhnliche Töne: „Die letzten 15 Minuten, das war nicht toll, aber alles andere war so besonders, dass ich dazu komme: Das muss man ausprobieren. Mein Problem damit ist, dass ich es nur ein einziges Mal spielen kann. Ich werde diese Erfahrung nicht wiederholen können.“ ²
Auch Julia Zerlik zeigt sich begeistert: „Das ist so spannend“, sagt sie, allein beim Öffnen der Packung gäbe es schon einiges an Geheimnissen zu sehen. „Wir haben mehr als drei Stunden da mitgefiebert. Dieses Spiel hat mich richtig in seinen Bann gezogen.“ Der Mechanismus sei allerdings sehr einfach: „Man sagt immer nur: Wir gehen jetzt in den Raum, oder in dem Raum wollen wir mit irgendwas interagieren.“ An der Auflösung hat Zerlik nichts auszusetzen, im Gegenteil: „Das hat mich richtig geflasht“, lautet ihr Urteil.³