Mit der Einführung des Preises „Kennerspiel des Jahres“ im Jahr 2011 schuf der Verein Spiel des Jahres eine ganz neue Kategorie – und zugleich ein ganz neues Problem. Existierte vormals nur eine Unterscheidung, ob Spiele Kinderspiele seien oder eben nicht, stellte sich fortan auch die Frage: Welche unter denen, die nicht für Kinder sind, richten sich an alle? Und welche vorrangig an Kenner?
Die Einteilung ist alles andere als trivial. Deshalb entbrennen – intern und extern – jedes Jahr aufs Neue Diskussionen. Dabei könnten wir es uns eigentlich wunderbar leicht machen: Den Begriff „Kennerspiel“ gab es bis 2011 gar nicht, etabliert hat ihn erst der Verein Spiel des Jahres. Also ist „Kennerspiel“ definitionsgemäß das, was wir als Kennerspiel ansehen. Oder?
Die Praxis ist dann doch vielschichtiger. Welches Spiel ein Spiel für alle ist und welches nicht, erkennt man leider nicht an allgemeingültigen, genau messbaren Merkmalen, sondern erst beim Spielen mit möglichst vielen verschiedenen Menschen. Und selbst dann sind die Ergebnisse nicht immer glasklar. Um zu ermitteln, mit welchen Spielen vorrangig die Kennerspieler zurechtkommen, benötigt man zunächst einmal eine Vorstellung, wer überhaupt Kennerspieler sind: Ist es Ilse? Ist es Ralf? Ist es Nikola? Es steht den Menschen nicht auf die Stirn geschrieben. Und es ist letztlich Einschätzungssache.
Und es ist jedes Jahr erneut Einschätzungssache, weil jedes Spiel andere Menschen erreicht und zugleich andere überfordert. Spielerin A kommt besser mit räumlichem Denken zurecht, Spieler B blüht bei Wortspielen auf. Obendrein können verschiedene Spielerunden widersprüchliche Ergebnisse hervorbringen. Manchmal halten sich die Gründe, ein Spiel als Kennerspiel anzusehen oder nicht, fast in der Waage. Aber wir müssen uns nun mal entscheiden. Und am Ende entscheiden wir uns – wohlwissend, dass auch andere Sichtweisen plausibel wären.
Überforderte Spieler
Im aktuellen Jahrgang sehen wir „Die Crew“ und „Der Kartograph“ als Kennerspiele. Warum? „Die Crew“ ist ein Stichspiel. Zwar beherrschen viele Menschen Stichspiele; Skat, Schafkopf, Doppelkopf und auch modernere Vertreter wie „Wizard“ sind durchaus populär.
Aber: Im Gegensatz zu den üblichen kompetitiven Stichspielen, verlangt das kooperative „Die Crew“ mehr: Wer sinnvoll spielen will, muss über das eigene Blatt hinaus eine Vorstellung für das Gesamtgeschehen entwickeln, muss für sich und andere Beteiligte und ohne ihre Karten zu sehen, Vorgänge wie Stechen oder Abwerfen antizipieren. „Die Crew“ erfordert, damit es rund läuft, einen ungewöhnlichen Denkprozess. Es ist wie ein Logikpuzzle mit Karten. Mehrfach saß ich mit Menschen am Tisch, die zwar „Wizard“ oder Doppelkopf kannten, aber trotzdem keine Idee hatten, was „Die Crew“ nun von ihnen verlangte.
Ähnliche Erfahrungen bei „Der Kartograph“: Eine geometrische Form auf einem Blatt Papier einzuzeichnen, ist für sich genommen nicht schwer. Doch geht es hier nicht ums bloße Malen, sondern um die Ziele, die man damit verfolgt. In „Der Kartograph“ gewinnen wir nach jeder Jahreszeit Punkte in gleich vier unterschiedlichen Kategorien. Nicht genug: Zwei dieser Kategorien wechseln mehrfach während des Spiels. Etliche Spieler sind überfordert, all die Wertungen parallel im Blick zu behalten. Es gab Partien, in denen ich hinterher für jeden Beteiligten ausrechnen musste, wie viele Punkte er erzielt hatte.
Grenzgänger
Grenzgänger zwischen Rot und Anthrazit sind auch die Spiele „Little Town“, „Nova Luna“, „My City“ und „Kitchen Rush“. Hier haben wir uns aber für „Rot“ entschieden, also für die Kategorie „Spiel für alle“, obwohl auch die Einstufung „Kennerspiel“ Gründe für sich gehabt hätte.
„Little Town“ ist ein sehr taktisches Figureneinsatzspiel fast ohne Glücksfaktoren. Doch nicht primär die Spieltiefe entscheidet darüber, einen Titel als Kennerspiel einzustufen, sondern die Hürden, die jemand bewältigen muss, um überhaupt ins Spiel zu kommen und die grundsätzliche Spielidee zu erfassen. Dank der Thematik, der klaren Struktur, den immer gleichen Rundenabläufen und der intuitiv zu erfassenden Wertung sehen wir die Hürde bei „Little Town“ als nicht ganz so hoch an.
Auch „Nova Luna“ ist sehr taktisch, außerdem enthält es einen ungewöhnlichen Kniff, wie Plättchen gleicher Farbe Aufgaben erfüllen. Dieser Kniff ist aber sehr logisch. Um ihn zu verstehen, muss es nur einmal Klick machen. Zudem erleichtern die übersichtliche Materialgestaltung und die Reduktion aufs Abstrakte die Übersicht. Meine Spielerunden kamen auch deshalb gut ins Spiel hinein, weil „Nova Luna“ insgesamt nur sehr wenige Regeln enthält und nicht durch Zwischenwertungen unterbrochen wird.
„My City“ und „Kitchen Rush“ sind spezielle Fälle. Sie durchlaufen von Anfang bis Ende 24 bzw. acht Versionen. Der Schwierigkeitsgrad während der Kampagne steigt merklich an. In den finalen Szenarien sind so viele Spielelemente gleichzeitig zu beachten, dass beide Spiele Kennerniveau erreichen – doch der Einstieg liegt deutlich darunter. Man tastet sich im Laufe der Kampagne sukzessiv an den höheren Schwierigkeitsgrad heran. In „My City“ ermöglichen die beiliegenden Übersichten jederzeit eine klare Orientierung über den Stand der Regeln und Wertungen. In „Kitchen Rush“ werden alle Schritte durch die Spielgeschichte stimmig entwickelt, außerdem kann jede Spielerunde auf dem Schwierigkeitsniveau stehenbleiben, der für sie der richtige ist.
Wer die diesjährigen empfohlenen und nominierten Spiele mit denen von 2019 vergleicht, wird feststellen, dass die Vorjahresauswahl im Durchschnitt einfachere Spiele umfasste. Dies ist keinem Paradigmenwechsel der Jury Spiel des Jahres zuzuschreiben, sondern den Eigenarten und Qualitäten der unterschiedlichen Spielejahrgänge. Waren es im Vorjahr überwiegend die kleinen und leichten Spiele, die uns begeistert haben, sind es diesmal die etwas umfangreicheren. Schön, dass uns Autoren und Verlage diese Vielfalt bescheren.
Udo Bartsch