Spiel des Jahres 1985: SHERLOCK HOLMES CRIMINAL-CABINET von Anthony Uruburu
Zu Besuch in Baker Street 221B darf sich der ambitionierte Amateurdetektiv an die Lösung von zehn Fällen wagen, die dort an sein großes Idol herangetragen werden. Wie er dabei vorgehen möchte, steht ganz in seinem Belieben. Er kann Zeugen befragen, deren Aussagen in einem sog. Buch der Indizien zu finden sind, oder im Zeitungs-Archiv nach Hinweisen stöbern. Als weitere Hilfsmittel stehen ihm ein Stadtplan von London und ein dazu passendes Adressbuch zur Verfügung.
Zur Lösung eines Falls genügt es nicht, den Täter zu überführen. Vielmehr wollen auch noch Fragen nach seinem Motiv und zu anderen wichtigen Details beantwortet werden, um ein entsprechend hohes Punktergebnis zu erzielen. Nahezu unmöglich, dabei mit ebenso vielen oder besser: wenigen Indizien auszukommen wie der Meister, der zum Ausklang in gewohnter Manier seine scharfsinnigen Überlegungen zu präsentieren pflegt.
Die Ermittlungen lassen sich ebenso allein wie im Wettstreit gegen einen anderen Detektiv durchführen. Am unterhaltsamsten und effektivsten ist es jedoch, sich als Team an die Arbeit zu machen und dabei über die bereits gefundenen Anhaltspunkte zu diskutieren und das weitere Vorgehen abzustimmen, um so schnell wie möglich einen Ermittlungserfolg zu erzielen.
Die Gründe
SHERLOCK HOLMES CRIMINAL-CABINET fügt auf einfühlsame Weise die vertraute literarische Vorlage mit Elementen des Rollenspiels zu einem ebenso stimmungsvollen wie spannenden Detektivspiel zusammen, das diese Gattung in hervorragender Weise bereichert. Die Teilnehmer tauchen ein in die Welt von Sherlock Holmes und Dr. Watson und agieren dort wie richtige Ermittler. Jagdeifer und Scharfsinn, aber auch Phantasie und Ausdauer sind gefragt, um einen Fall erfolgreich abzuschließen.
Es ist weniger ein Spiel im herkömmlichen Sinne als spielerisch angereicherter Denksport. Seine Zielgruppe bilden deshalb in erster Linie Erwachsene und Jugendliche, während Kinder zumeist nur als Mitglieder eines Teams damit zurechtkommen. Dass SHERLOCK HOLMES CRIMINAL-CABINET damit im Grenzbereich der Familienspiele angesiedelt ist, hat die Jury nicht davon abhalten können, es auf den Schild zu heben, weil mit dieser Auszeichnung zugleich für die Verlage ein Signal gesetzt werden soll, bei ihrer Programmpolitik ungewöhnliche Spielideen zu berücksichtigen und in sorgfältiger redaktioneller Bearbeitung zu präsentieren.
Der Autor
Auf dem US-amerikanischen Original, das 1981 unter dem Titel SHERLOCK HOLMES CONSULTING DETECTIVE bei Sleuth Publications erschienen ist, werden als Autoren Gary Grady, Suzanne Goldberg und Raymond Edwards aufgeführt. Deren Namen finden sich dann auch in den zwei deutschsprachigen Erweiterungen des Spiels. Ein Anthony Uruburu, der seinerzeit von Seiten des deutschen Verlags als Autor genannt worden ist, hat dagegen lediglich im CRIMINAL-CABINET Fall 5 einen Auftritt als ein Verdächtiger, der bekundet, leider gar nichts zu wissen. Immerhin soll tatsächlich jemand unter diesem Namen im Verlag zum Vertragsschluss erschienen sein, ohne sich allerdings zur Preisverleihung noch einmal zu materialisieren.
Der Verlag
Die 1822 gegründete Franckh’sche Verlagsbuchhandlung mit Sitz in Stuttgart, die zunächst ganz auf Belletristik ausgerichtet war und sich erst später auf Sach- sowie Kinder- und Jugendbücher spezialisierte, erweiterte ihr Programm Anfang der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts um Experimentierkästen. Nach zwei vorsichtigen Gehversuchen im Bereich der Spiele kamen Mitte der 70er Jahre im Gefolge der Heyne-Taschenspiele immerhin vier Titel im TB-Format dazu. Doch erst der Erfolg mit SHERLOCK HOLMES CRIMINAL-CABINET sollte als Initialzündung für ein dauerhaftes Engagement als Spielverlag wirken.
Nach der mit wuchtiger Eleganz beeindruckenden Perlhuhn-Reihe, deren Konzeption gleich im ersten Jahr durch den Sonderpreis Schönes Spiel für MÜLLER & SOHN von Reinhold Wittig die gebührende Bestätigung erfuhr, wurde das Programm des inzwischen als Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG firmierenden Unternehmens unter dem Label Kosmos mit Hochdruck ausgebaut. Aus einer Fülle ausgezeichneter Titel ragt Klaus Teubers Jahrhundertspiel DIE SIEDLER VON CATAN hervor, das 1995 zum Spiel des Jahres gekürt worden ist und mittlerweile eine ganze Spielfamilie mit einer Gesamtauflage im zweistelligen Millionenbereich um sich geschart hat.
Der Spielejahrgang
Wie schon im Vorjahr konnte die damals noch so genannte Bestenliste erneut um zwei auf nunmehr acht Titel zulegen, eine glatte Verdoppelung gegenüber 1983 und ein gutes Zeichen für das weiter wachsende Engagement der Verlage.
Würfelduelle mit gegnerischen Cowboys und Viehdiebstähle sind an der Tagesordnung, wenn in ABILENE (Hexagames) von Ronald Siegers drei Rinderbarone ihre Herden zur Spielplanmitte treiben, um dort Kasse zu machen.
Zu Zahlenspielereien lädt CAMPUS (Amigo) von André Francois ein, wo die Ergebnisse zweier Augenwürfel dazu verwendet werden, möglichst schnell alle Zahlenplättchen auf dem eigenen Tableau umzudrehen.
Mit dem würfelgesteuerten Wirtschaftsspiel CASH & CARRY hat sich Hans-Jörg Nürnberger als Autor und Inhaber des Verlags Hanje aus der Welt der Brettspiele verabschiedet. Wer seine Spielsteine in Boxen mit gleichen Ziffern zu manövrieren versteht, darf diese beim Verkauf zur Preisbestimmung miteinander multiplizieren oder sogar als zweistellige Zahl lesen, wenn sie unmittelbar benachbart sind.
Von der prickelnden Ungewissheit, wem denn nun welche Figur gehört, lebt Wolfgang Kramers HEIMLICH & CO. (Edition Perlhuhn). Um beim Vorrücken auf der Wertungsskala die Nase vorn zu haben, sind ein guter Bluff und ablenkende Kommentare äußerst hilfreich.
JAGO (Spear), ein Wortspiel von Alex Randolph, erlaubt, auf Wörter des Gegenspielers Jagd zu machen, indem deren Bedeutung durch Anlegen oder Austausch von Buchstaben verändert wird, wobei ein raffinierter Timer allzu lange Grübelorgien verhindert.
Auf dem undankbaren 2. Platz der jury-internen Punktwertung ist Rüdiger Koltze mit seinem KUHHANDEL (Ravensburger) gelandet. Ein bemerkenswertes Ergebnis für ein Kartenspiel, das mit seinen verdeckten Kaufpreisgeboten seinem Titel aber auch alle Ehre macht.
Das Denkspiel MR. ZERO (Dacapo) von Wilfried Bauer und Rudolf Schweiker kommt mit einer einzigen Spielfigur aus, deren Schritte durch das Auslegen von Punktechips so programmiert werden wollen, dass sie ihren Weg ins eigene Zielfeld findet.
Gutes Augenmaß verlangt PIN (KD-Spiele) von Dieter Drkosch, wenn eine Kordel ohne Probieren um möglichst viele hochwertige Stecker geführt werden will, die auf einer Lochplatte in zufälliger Anordnung platziert sind.
Der Sonderpreis für das Schöne Spiel ging an DIE DREI MAGIER (Noris) von Johann Rüttinger, das durch den Zusammenklang einer reizvollen Spielidee und deren materieller Umsetzung zu überzeugen weiß. Schachtelcover, Spielplan und Holzfiguren sind eine wahre Augenweide und verleihen der Suche nach den fehlenden Karten eines Wahrsagespiels eine große atmosphärische Dichte.
Die weitere Entwicklung
Da die Fälle nach ihrer Lösung für dieselben Teilnehmer verbraucht sind, war es nicht nur legitim, sondern geradezu geboten, sofort zwei Erweiterungen nachzuschieben. Das selbständig spielbare SHERLOCK HOLMES TATORT LONDON umfasst zwar bloß fünf Verbrechen, deren Aufklärung sich dafür umso schwieriger gestaltet. Die Ermittlungen erstrecken sich hier zum Teil auf ein dreigeschossiges Herrenhaus, dessen Grundriss eine Fülle neuer Räume voller Indizien bereithält. SHERLOCK HOLMES – DIE QUEEN’S PARK AFFAIRE schließlich ist ein reines Ergänzungs-Set, das für einen groß angelegten Fall als neue Komponente mit einem Zeitfaktor aufwartet, der auch geübte Hobbydetektive in Atem hält.
Als völliger Fehlschlag erwiesen hat sich dagegen der 1988 unternommene Versuch eines Lizenznehmers, die Ermittlungstätigkeit für einen einzigen Fall des Originals auf den Computer zu verlagern. Nicht etwa, dass die Rechnerkapazität eines Atari XL für die schlichte 1:1-Umsetzung nicht ausgereicht hätte. Vielmehr ist neben diversen kleineren Programmierfehlern die Menü-Führung völlig verunglückt, was sich auf den Jagdeifer geradezu lähmend auswirkt.
Jochen Corts (Januar 2010)