Spiel des Jahres 1986: HEIMLICH & CO. von Wolfgang Kramer
Die Nacht hat sich über sich über das schmucke Villenviertel am Rande der Stadt gelegt. Nur sieben Gestalten ziehen noch um die Häuser. Geheimagenten, die es auf den Inhalt eines Tresors abgesehen haben. Doch wer ihre Hintermänner sind, wissen nur diese selbst. Und dies sind die Spieler, die zu Beginn der Partie eine Agentenfigur geheim zugelost bekommen haben und nun bemüht sind, diese so in Position zu bringen, dass sie damit einerseits ordentlich punkten können, andererseits aber auch möglichst gar nicht oder zumindest erst dann enttarnt werden, wenn es für die anderen zu spät ist.
Dazu darf jeder Spieler nach Belieben jede Figur auf dem Rundkurs versetzen. Wie weit, entscheidet ein Würfel, dessen Augenzahl auch auf mehrere Figuren verteilt werden kann. Sobald ein Agent auf das Feld mit dem Tresor zieht, rücken die farbgleichen Zählsteine aller Agenten so weit vor, wie der Nummer des Hauses entspricht, vor dem sie gerade stehen. Ein Agent vor der Kirche geht allerdings leer aus, und ein Kollege, den es in die Ruine verschlagen hat, muss seinen Zählstein sogar drei Felder zurücksetzen. Danach wird der Tresor in ein anderes Haus versetzt.
Es gewinnt, wer mit dem Zählstein seines Agenten die Ziellinie am weitesten überschritten hat. Gehört dieser jedoch zu einem Agenten ohne Hintermann, schauen alle in die Röhre. Wozu es kaum kommen kann, wenn gemäß einer Regelvariante gespielt wird. Danach dürfen, sobald ein Zählstein die Zielgerade erreicht hat, alle geheim notieren, wen sie für den Hintermann welches Agenten halten und welcher Agent ein bloßer Mitläufer ist. Jeder richtige Tipp bringt stolze fünf Punkte, was die Platzierungen noch einmal gründlich verändern kann.
Die Gründe
HEIMLICH & CO. lebt von der prickelnden Ungewissheit, zu wem denn nun welche Figur gehört, und von dem Bemühen, beim Vorrücken der Punktesteine die Anonymität der eigenen Figur unbedingt zu wahren, andernfalls diese von der Konkurrenz boykottiert oder sogar gezielt in die Ruine geschickt wird. Ein guter Bluff, Einfühlungsvermögen, Beobachtungsgabe und taktisches Geschick sind hierfür ebenso hilfreich wie ablenkende Kommentare. Dass der Umfang der jeweils zu verteilenden Bewegungsenergie in Fortunas Händen liegt, lockert das Geschehen auf und baut allzu verbissener Spielweise vor. Dabei sorgt das originelle, pfiffige Spielprinzip bis zum letzten Zug für Spannung.
Äußerlich stimmt ebenfalls einfach alles. Das stimmungsvolle Schachtelcover und der von Dietrich Lange hinreißend gestaltete Spielplan mit den klobigen Holzfiguren darauf passen maßgeschneidert zum Spielthema. Und auch der witzige Titel trägt seinen Teil zum gelungenen Gesamtkunstwerk bei. Das Spiel schafft schnell eine heitere Stimmung und lässt selbst jüngeren Mitspielern ihre Chance. Es erweist sich damit als geradezu ideal für Familien mit mehreren, nicht mehr ganz kleinen Kindern.
Das Spiel war unter demselben Titel zuvor bereits in einer nicht minder schönen Ausgabe bei der Edition Perlhuhn erschienen. Den Titel hatte deren Inhaber Reinhold Wittig beigesteuert, den Spielplan sein Sohn Matthias in schwarzer Tinte gezeichnet. Dass es gleichwohl im Vorjahr bloß auf die damalige Bestenliste gelangt war, erklärt sich daraus, dass eine Mehrheit der Juroren erst durch die Tippregel in der Ravensburger Ausgabe ihr Herz dafür entdeckt hat. Was angesichts starker Konkurrenz auch dann noch nur für einen denkbar knappen Punktsieg vor dem Zweitplatzierte gereicht hat.
Der Autor
Wolfgang Kramer gehört zu den renommiertesten Spielautoren unserer Zeit. 1974 wurde sein erstes Spiel verlegt. Seinen Beruf als Industriekaufmann hat er 1989 an den Nagel gehängt, um sich ausschließlich der Entwicklung neuer Spiele widmen zu können. Mit welch großem Erfolg, zeigt sich eindrucksvoll daran, dass er bislang noch vier weitere Male allein oder mit wechselnden Co-Autoren die Auszeichnung Spiel des Jahres und einmal den früheren Sonderpreis Kinderspiel hat entgegennehmen können.
Der Verlag
Das 1883 gegründete, weltweit agierende Traditionsunternehmen konnte mit HEIMLICH & CO. innerhalb von acht Jahren bereits zum vierten Mal ein Spiel des Jahres präsentieren. Eine imposante Bilanz, die freilich nicht von ungefähr zustande gekommen war. Denn schon Verlagsgründer Otto Robert Maier hatte um 1900 als sein Credo verkündet, „durch gediegenen Inhalt, sorgfältige Redaktion und künstlerische Ausstattung nur das Beste bieten“ zu wollen. Allerdings sollte erst die herrliche Gestaltung der Perlhuhn-Ausgabe entscheidend dazu beitragen, HEIMLICH & CO. ins Verlagsprogramm zu nehmen, wie seitens der Redaktionsleitung damals gegenüber Reinhold Wittig offen eingeräumt wurde, nachdem es zuvor in verschiedenen Rohfassungen zunächst zweimal abgelehnt worden war. Fairerweise wurde dann aber auch ein umsatzbezogenes Honorar für die geleistete „Entwicklungshilfe“ vereinbart.
Der Spielejahrgang
Die Bestenliste umfasste in alphabetischer Reihenfolge sieben Titel, die im Wertungslauf mehrfach benannt worden waren und auch noch einen sogennanten Vetolauf überstanden hatten.
Bei CODE 777 (Jumbo) von Robert Abbott sieht jeder Spieler nur die drei Zahlen, die sich auf den Ständern seiner Mitspieler befinden, und muss versuchen, aus deren Antworten auf vorgegebene Fragen auf die eigenen Zahlen zu schließen.
Wer mit seiner Spielfigur DAS VERRÜCKTE LABYRINTH (Ravensburger) von Max Kobbert betritt, um dort bestimmte Gegenstände aufzulesen, muss darauf gefasst sein, dass die Gänge ständig ihren Verlauf ändern und sich freie Wege von einem Augenblick zum anderen in Sackgassen verwandeln können.
Um bei Bernd Brunnhofers GREYHOUNDS (Hans im Glück) als Buchmacher finanziell die Nase vorn zu haben, kann dieser mit seinem eigenen Hund versuchen, den Ausgang der Rennen so zu beeinflussen, dass die anderen Hundebesitzer und Wetter möglichst leer ausgehen, die ihrerseits alles daransetzen, hohe Preisgelder und Wettgewinne einzustreichen.
Das abstrakte Denkspiel MALAWI (Piatnik) von Gerhard Kodys stellt die beiden Spieler vor die ungewöhnliche Aufgabe, nicht die gegnerischen Figuren als solche zu schlagen, sondern diese ihrer Bewegungsenergie zu berauben.
Der Marsch von einer Spielbrettseite zur jeweils gegenüberliegenden dient den Spielern bei TOP (KD) von Dieter Drkosch dazu, mit ihren Spielsteinen möglichst hochwertige Zählsteine heimzubringen, die unterwegs allerdings mehrfach den Besitzer zu wechseln pflegen.
Der Trupp Agenten, den jeder Teilnehmer bei TOP SECRET (Jumbo) von Alex Randolph aussendet, um eigene und fremde Koffer mit geheimen Unterlagen in seiner Zentrale abzuliefern, kann nicht nur unterwegs durch Kartenduelle, sondern auch noch nach erfüllter Mission bös dezimiert werden, wenn sich in einem der Koffer dummerweise eine Bombe befindet.
WINKELADVOKAT (Schmidt Spiele) von Roland Siegers ist entgegen seinem Titel ein abstraktes Taktikspiel, bei dem auf der Jagd nach Punkten Zahlenfelder mit Wertungssteinen der eigenen Farbe besetzt werden, bis der Zugstein eines Teilnehmer vollständig eingemauert ist.
Mit dem Sonderpreis für das Schöne Spiel wurde MÜLLER & SOHN von Reinhold Wittig in der Perlhuhn-Reihe bei Franckh-Kosmos ausgezeichnet. Schon die tiefgrüne Schachtel mit Goldaufdruck verströmt wuchtige Eleganz, und der Spielplan mit seiner von Matthias Wittig entworfenen Mühlenlandschaft ist eine wahre Augenweide. Zur opulenten Ausstattung gehören außerdem beidseitig bedruckte Spielsteine aus Holz, 70 themenbezogene Sprichwortkarten und ein reich illustriertes Regelheft.
Die weitere Entwicklung
HEIMLICH & CO. war hierzulande bis 1999 im Programm der Ravensburger, ab 1994 mit neuem Schachtelcover. Es erreichte eine Gesamtauflage von über einer Million Exemplaren. Auflagenzahlen der Ausgaben für Skandinavien, Italien, den Niederlanden und den USA liegen leider nicht mehr vor. Dafür findet sich in den Unterlagen des Ravensburger Unternehmensarchivs ein Dokument, wonach sogar für die DDR eine Ausgabe vereinbart worden war. Ob diese allerdings vor deren Zusammenbruch noch erschienen ist, hat sich bislang nicht klären lassen.
Seit 2001 wird das Spiel von Amigo in einer sorgfältig überarbeiteten Version verlegt. Die Teilnehmerzahl ist entsprechend der Ursprungsversion wieder auf bis zu sieben erweitert. Ein Spezialwürfel mit einer 1-3 statt einer 1 soll den Glücksfaktor vor allem in der Schlussphase etwas einschränken und zugleich den Einsatz diverser Aktionskarten regulieren, mit denen sich die Wertungsrunden beeinflussen lassen.
Das Spielprinzip einer verdeckten Zuordnung der Spielsteine in Verbindung mit deren allgemeiner Verfügbarkeit ist später immer wieder einmal aufgegriffen worden. So 2002 von Leo Colovini für CLANS (Winning Moves) und jüngst von Dominique Ehrhard für WATER LILY (GameWorks, 2010).
Der von Wolfgang Kramer kreierte Punktestandzähler am Rand des Spielbretts hat sich auch in zahlreichen anderen Spielen bewährt, um jederzeit den Spielstand im Blick zu haben, und ist inzwischen als sogennante Kramer-Leiste zu einem technischen Begriff in Spielerkreisen geworden.
Auch der für Firmen gebräuchliche Zusatz „& Co.“ wird von den Verlagen immer wieder gern verwendet, um einem Titel augenzwinkernd zusätzlichen Klang zu verleihen.
Der Versuch, wie drei Jahre zuvor mit SCOTLAND YARD als Spiel des Jahres in Kooperation mit dem Karussell-Verlag eine Hörspielserie aus Jugendkrimis zu etablieren, ist gescheitert. Während der Vorläufer auf immerhin 29 Folgen gekommen war, sollte diesmal bereits nach Folge 6 Schluss sein.
Jochen Corts (Januar 2011)