Thomas Sing strahlt Ruhe und Gelassenheit aus. Dennoch beobachten seine Augen scharf durch die zeitlose Brille mit Hornrand, Sings Geist ist wach wie ein Computer, der niemals in den Ruhezustand fährt. Es ist Mitte Juli. Thomas Sing ist mit seinem Spiel „Die Crew“ für das Kennerspiel des Jahres nominiert. In einer Woche ist die Preisverleihung in Berlin, Sings Titel – nach der Veröffentlichung im Herbst 2019 schnell vergriffen – gilt unter Szenekennern als Favorit.
Wir sitzen nebeneinander in einem Restaurant, Sing nippt an seiner Johannisbeer-Schorle. „Noch bin ich cool“, sagt er. Aber neulich war er dann doch neue Kleidung für die Preisverleihung kaufen, so richtig kalt lässt einen die Sache anscheinend nicht. Schlimmer sei die Bekanntgabe der Nominierten im Mai gewesen: „Da habe ich mir echt in die Hose gemacht!“ Unter allen Spielen eines Jahrgangs schaffen es immer nur drei – die absoluten Top-Titel. So weit zu kommen, ist also schon eine beachtliche Leistung. Aber Thomas Sing sieht sich nicht am Ziel: „Ich will gewinnen“, sagt er mit festem Blick.
Der Autor, Jahrgang 1961, wohnt in Konstanz am Bodensee. Hier ist er geboren, hier hat er studiert. „Ich war ein miserabler Schüler“, gesteht er, „hatte aber ein ganz gutes Abitur.“ Auch als Student – erst war es Mathematik bis zum Vordiplom, dann der Wechsel zu Volkswirtschaftslehre – tat er sich nicht durch Fleiß hervor, habe viel gefehlt und lieber Tennis gespielt. Das Diplom habe er nie abgeholt, das sei ihm nicht wichtig gewesen.
Spielerisch durchs Leben fädeln
Das Spielen indes zieht sich wie ein roter Faden durch Sings Leben. 1980, als Schüler der 13. Klasse, überbot er mit fünf Freunden den damaligen Weltrekord im „Mensch ärgere Dich nicht“-Dauerspielen. Sie spielten in einer frisch eröffneten Fast-Food-Filiale. Ein Notar passte auf, die Leute schauten neugierig zu, aßen, gafften. Jeder Teilnehmer hatte nach vier Stunden eine Stunde frei, um sich auszuruhen. Sie hielten durch. Mehr als vier Tage am Stück, 100 Stunden lang. 2015 übernahm er mit einem Partner einen Kiosk in Konstanz. Zuvor war er gemeinsam mit einem Freund sogar eine Weile professioneller „Black Jack“-Spieler gewesen. „Reich sind wir dadurch nicht geworden“, lacht er, „aber es hat die Hotelrechnung bezahlt.“ Einfaches Spielen reicht für so etwas sicher nicht aus? „Nein, wir hatten ein System entwickelt, haben Karten beobachtet und besaßen dadurch den minimalen Vorteil, die Kartenverteilung und Wahrscheinlichkeiten auszurechnen.“ Glück ist nicht nur Glückssache. Man kann mit Mathematik und Logik darauf einwirken. Davon ist Sing überzeugt.
Klein, aber abwechslungsreich
Schon immer hielt der Autor sich mit Tätigkeiten über Wasser, die er nicht unbedingt um ihrer selbst willen ausübte, sondern weil sie ihn wenig einschränkten. Sein Kiosk bietet ihm Freiheiten, um sich auch noch mit anderen Dingen zu beschäftigen und nachzudenken. Über dies und das und über Spielideen. Sings Werkschau ist klein, aber faszinierend unterschiedlich: „Miss Lupun“ (2011) ist ein Legespiel mit Zahlen, „Tackle“ (2012) abstrakte Strategie, „Kribbeln“ (2016) richtet sich ans Kniffelpublikum, „Prof. Marbles“ (2016) an Solisten, „The Key“ (2020) ist Deduktion – und: „Die Crew“ ein kooperatives Stichspiel. Alle Werke bringt Sing schnörkellos auf den Punkt, sauber entwickelt und wirklich etwas Besonderes. Wie macht er das?
„Ich bin eigentlich ein typischer Kneipenspieler“, holt Sing zur Erklärung länger aus. Jeden Mittwoch oder Donnerstag treffen sie sich in immer derselben Fünferrunde. Aber natürlich sind das nicht irgendwelche Spiele-Fans, sondern auch hierzu gibt es eine Vorgeschichte: „Wir haben zusammen vor rund 30 Jahren einen Fußballverein in Konstanz gegründet.“ An Bord waren Studenten, Einheimische, Leute mit Spaß am Kicken. „Wir haben uns nahe des Bodensee- Ufers getroffen und die Tore selbst gezimmert.“ Nach fünf Jahren mussten sie den Verein auflösen, weil viele nach der Uni wieder weggezogen waren. Das geschieht mit den meisten Studenten in Konstanz, kaum jemand bleibt da. Doch der harte Kern dieses Vereins trifft sich noch heute – und spielt.
Aber eben eher Kneipenspiele und nicht den immer neuesten Hype aus der Spieleszene. „Ich kenne nur ganz wenige Spiele anderer Autoren“, bekennt Sing, „ich habe mir vor ein paar Monaten „Puerto Rico“ gekauft, weil das von so vielen gelobt wird … Es ist noch nicht ausgepackt.“ Diese Unbelecktheit ist möglicherweise ein entscheidender Schlüssel für das Entwickeln originärer Ideen. Die Werke anderer lenken Sing nicht ab, er muss sich nicht vergleichen und kann sich auf die eigenen Spielsysteme fokussieren.
„Neue Ideen teste ich zunächst alleine mit imaginären Promis, mit denen ich auch spreche und die mir Feedback geben.“ Thomas Sing schaut über den Rand seiner Brille, er weiß, dass man für solch eine Aussage komisch angeschaut wird. Aber im Grunde seien das nur Repräsentanten von Spielertypen, die unterschiedlich auf den Prototypen reagieren. Bis er überhaupt einen Prototypen vorbereite, habe er die Spielidee im Geist bereits hundertfach durchgespielt. Erst nach solchen Solo-Tests geht Sing mit seinem Spiel in die Gruppe. „Ich muss wahrscheinlich weniger in meinen Spielen nachtarieren, da entscheidet der Kopf schon vorher.“ Mehr Geistes- als Bastelarbeit: Das erklärt wohl auch die klare Struktur seiner Spiele. Sings Unterbewusstsein, so beschreibt er es, arbeite ständig weiter, Rückkopplungen entstehen und Lösungen tauchen von selbst auf.
Fallen die Dinge einem Thomas Sing zu? Nein, so einfach sei es auch nicht. Er liebt es, gedanklich tief in die Materie einzudringen, in eine Fragestellung zu versinken. Sein Verstand verarbeitet im Hintergrund Informationen und spuckt zu unmöglichen Zeiten Ergebnisse aus: „Plötzlich habe ich das Gefühl, etwas zu verstehen, dann wache ich nachts auf und habe einen Heureka-Moment.“
Spiele(er)finder
Den gab es auch bei Die Crew: „Ich habe das Spiel nicht erfunden, es hat mich gefunden.“ Plötzlich stand das Grundgerüst des Spiels fertig in seinem Kopf. Zu dieser Zeit hatte er an einem anderen Stichspiel gearbeitet. „Ich wachte mitten in der Nacht auf und hatte diese Eingebung. Ich spielte sie geistig durch und notierte sie: Wie wäre es, wenn vor dem Losspielen bestimmt wird, wer welche Karte im Stich gewinnen muss?“, erzählt Sing. „Und am nächsten Tag saßen wir abends in der Kneipe und wollten das Ding als Abschluss spielen, bevor alle heimgehen – es war eine Offenbarung.“ Der Abend wurde lang, der Wirt warf sie irgendwann um halb zwei hinaus. Die Idee hatte sofort funktioniert. Alles passte zusammen, nichts musste nachjustiert werden. Schon am ersten Abend standen die ersten Missionen des Spiels.
„Ich fühle mich wie Erfinder und Gefundener in einem.“ „Die Crew“ sei für Thomas Sing wie ein Schatz gewesen, den er geborgen habe und den er selbst entdecken wollte. „Ich bin eher der abstrakt-mathematische Typ. Deswegen war es schwer, eine Geschichte zum Spiel zu finden“, erzählt er. Alexander Gerst war damals in aller Munde, der lässige deutsche Astronaut und spätere Kommandant der ISS. Sing las in einem GEOlino-Heft im Kiosk und fand die Idee der Weltraumreise spannend. Den Rest erledigte die KOSMOS- Redaktion. „Die haben auch all die Easter Eggs in den Illustrationen versteckt“, erzählt er und meint damit die verborgenen Science-Fiction-Anspielungen. Der Kontakt zum Stuttgarter KOSMOS-Verlag war bereits durch einen anderen Spiele-Entwurf entstanden, der aber abgelehnt worden war. Diesmal kam nach drei Tagen die Zusage.
Glücksschmied
Thomas Sing ist ein Selbstverwirklicher. „Das Leben gewinnt deutlich an Wert, wenn man Dinge unternimmt und sie leiten kann“, sagt er. Von alleine passiere wenig, man müsse aktiv werden und seines eigenen Glückes Schmied sein. „Miss Lupun“, das Zahlenspiel, das er gemeinsam mit seinen Freunden Ralf-Peter Gebhardt und Volker Firnhaber entwickelt hatte, war ursprünglich als musikalisches Rätsel am Klavier entstanden. Gemeinsam übertrugen sie die Idee dann ins Mathematische und ergriffen eine gute Gelegenheit. „2009 war in Konstanz das Jahr der Wissenschaft, und eine Brauerei wollte Bierdeckel mit Rätseln drauf produzieren.“ Da „Miss Lupun“ so ähnlich wie ein Sudoku faszinierte, fiel die Wahl auf das Zahlenspiel, das sich in Form von rund einer Million roter Rätsel-Bierdeckel rund um den Bodensee verbreitete. Rätselbücher entstanden, ein Spiel erschien 2011 bei „Winning Moves“ und landete auf der Empfehlungsliste „Spiel des Jahres“. Sogar in der TV-Show „Die Höhle der Löwen“ wären sie kürzlich fast gelandet.
Jetzt aber läuft eine andere Show. Thomas Sing ist in Berlin. Es ist kurz vor der Preisverleihung vom Spiel des Jahres und Kennerspiel des Jahres. Noch immer wirkt er ruhig und souverän. Dem Team des KOSMOS-Verlags hingegen sieht man die Nervosität an. Thomas Sing schaut sich alles an, nimmt stoisch an den Proben teil und spielt geduldig seine Rolle auf der Bühne. Womöglich denkt er schon wieder über ein Spiel nach? Bei unserem Treffen erzählte er noch von der Idee eines Memo-Spiels, bei dem man aktiv Dinge vergessen müsse. Geht so etwas überhaupt?
Die Crew hebt ab
Und dann: Gewonnen! „Die Crew“ ist das Kennerspiel des Jahres 2020. Thomas Sing ist aufgekratzt. „Ich hatte es mir erhofft, es wurde im Internet ja bereits viel zum Spiel geschrieben“, atmet er auf. Den Moment der Preisverleihung erlebte er wie in Trance. „Es freut mich ungemein, dass die Art und Weise, wie ich arbeite, anscheinend richtig ist.“ Die Bestätigung tut gut, sagt er, „denn Autoren haben oft genug mit Nichtbeachtung zu kämpfen, wenn ihr Spiel schnell wieder vom Markt verschwindet.“ Das wird Sing mit „Die Crew“ wohl nicht passieren, das Spiel hat das Zeug zu einem Dauerbrenner. Wird er jetzt den Kiosk Kiosk sein lassen und sich mehr auf die Tätigkeit als Spieleautor konzentrieren? Er schließt es nicht aus: „Ich hatte immer eine Basis und dann geschaut, wie sich die Dinge entwickeln.“ Das Spiele-Erfinden mache ihm viel Freude und wenn der Erfolg von „Die Crew“ ihm nun Zeit schenkt, mehr in diese Richtung zu tun, wird man sehen, was kommt.
Haftung am Boden(see)
Wieder daheim in Konstanz, ein heißer Sommertag am Bodensee. Wieder gibt es Johannisbeer-Schorle. „Ich bin verrückt nach dem Zeug“, gesteht der Autor. Wir blicken zurück auf die Preisverleihung: „Erst musste ich eine ganze Menge Interviews geben, danach war ich mit KOSMOS beim Essen. Aber wir haben auch gearbeitet“, verrät er. „Die Crew“ wird fortgesetzt.
Er blieb dann noch eine Nacht in Berlin, bei seinem Bruder Stefan. Der ist Jongleur, unterrichtet in ganz Europa – und ist natürlich stolz auf den Bruder. Zuhause gab es ein großes Hallo, alle wollten feiern, über 50 Glückwunsch- Mails kamen rein. „Darunter waren auch Verlage, die früher meine Spiele abgelehnt hatten. Wahnsinn, dass die mich nicht vergessen haben“, freut sich Sing. Dabei ging es auch um Kontaktaufnahme, der Name Thomas Sing ist jetzt bekannt, Türen der Redaktionen öffnen sich bestimmt schneller. Auch wenn „Die Crew“ noch weiterfliegen wird und die „The Key“-Reihe bei HABA eben erst begonnen hat, scheint Thomas Sing schon wieder bereit, neue Spiele zu finden. Oder sich von ihnen finden zu lassen.
Guido Heinecke
Dieser Artikel erschien zuerst in der „Spiel doch“, Ausgabe Herbst/Winter 2020. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Nostheide-Verlags.