Ich spiele nicht gerne, um zu gewinnen. Mir fehlt der Ehrgeiz, den Wettkampf mit den anderen zu suchen – obgleich ich mich natürlich anstrenge, eine gute Figur zu machen. Ich suche in einem Spiel ein Erlebnis: Einen Mechanismus, der neu und fesselnd ist. Eine Geschichte, die mir glaubhaft übersetzt, was ich eigentlich mache, wenn ich Karten ausspiele oder Figuren umherschiebe.
Doch Geschichten haben mich schon immer fasziniert; aber ich bin keine Leseratte, mein Bücherschrank ist überschaubar. Bin ich vielleicht eher ein Träumer? Vermutlich. Schon die Wälder meiner Kindheit waren geheimnisvoll und die Entdeckung von Fantasy-Geschichten und Rollenspielen in meiner Jugend ein Quell von Spinnereien und Tagträumen. Ein Bild von einem romantischen Sonnenuntergang im Museum fesselte mich. Es mag kitschig klingen, aber ich stelle mir dann vor, selbst in diesen ruhigen, unbelasteten und friedlichen Welten zu stehen.
Gegen die Entfremdung
Moderne Spiele haben ähnliche Lieblingsthemen: Heldenhafte Ritter- und Sagenwelten, der Glanz der großen antiken Zivilisationen: Römer, Griechen, Ägypter. Oder friedliche Dörfer mit Bauernhöfen und durchziehenden Händlern, siehe „Catan“, „Carcassonne“ oder „Sagaland“. Aber auch „Zug um Zug“ ist Dampflok-Idyll, „Dixit“ verträumt, „Tikal“ exotisch. Die Themenvielfalt ist begrenzt, aber ein Merkmal strahlt prominent durch: Das einer heilen und unbekümmerten Welt. Spiele pflegen für gewöhnlich ein Narrativ, das ungern ungemütlich oder belastend wirken möchte. Ich weiß auch, warum: Spieler sind Romantiker.
Exkurs: Die Romantiker tobten sich in der Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts aus. In jener Zeit drangen Technik und Industrialisierung in das Leben der Menschen ein. Sie mussten auf einmal wie Maschinen funktionieren: durchökonomisiert und fehlerfrei. Dies führte dazu, dass sie auch streng, egoistisch und ernst wurden.
Die Romantiker verstanden sich als Gegenbewegung, um diese Entfremdung von Mensch und Umwelt, Kultur und Natur, Ich und Welt, wieder aufzuheben. Ihre Gemälde zeigten Reste antiker Bauten mitsamt Sagengestalten oder Naturschauspiele aus Licht und Mystik – alles arg verklärt. Die Geschichten waren voller Fantasie und Sehnsucht. Dadurch wollten sie die industrielle Vernunft bremsen und das rein rationale Weltbild aufbrechen. Wenn man der Welt plötzlich wieder einen Zauber verleiht, der den Schleier zwischen Traum und Realität anhebt, da entstehen neue Perspektiven. Wo Chaos und Geheimnis herrschen, da entstehen Möglichkeiten – und Lebendigkeit.
Fantasy und Utopien
Moderne Spiele steigen doch genau dort ein. Es geht nicht nur um abstrakte Mechaniken, die möglichst ökonomisch genutzt werden: Themenstark lieben sie auch Geschichten, die ihre Wurzeln in der Romantik haben: Stark romantisierte Bilder historischer Epochen. Heldenhafte Fantasy. Utopische Science Fiction. Wie die Romantiker wenden sich Spieler gerne Sagen- und Mythenwelten zu. Sie genießen den Eskapismus des Augenblicks, die Flucht aus dem gesellschaftlichen Alltag. Sie erschaffen sich Spielräume und Spielzeiten, in denen nur die Regeln und Geschichten ihres Spiels und des Flow gelten. Das ist weder stumpfer Kulturkonsum noch aufregendes Entertainment; es ist produktiv, sozial und gleichzeitig ein Genuss, zusammen in der Welt des Spiels zu interagieren. Mehr noch als beim Lesen entsteht die Geschichte eines Spiels erst durch das Gespielt-werden. Der Akt ist schöpferischer, kreativer als bei jedem Buch.
Zugleich erleben sich die Spieler im magischen Kreis der Spielregeln wie in einem anderen Licht – sowohl die Mitspieler als auch das eigene Wesen können sich ausprobieren, das Als-Ob mit seinen Möglichkeiten und Konjunktiven mitsamt all den Folgen daraus probieren. Die frühen Romantiker waren bestimmt tolle Mitspieler, denn ihnen waren Kreativität und Improvisation immens wichtig, weil erst dadurch Wahres und Schönes entstehen sollte. Und das sind Dinge, die man im Spiel ständig macht.
Das große Gesamtkunstwerk
Die Romantik zog unheimlich viele Künstler aus Deutschland an, wie Schlegel, Novalis, Caspar David Friedrich. Das moderne Gesellschaftsspiel entsprang dem Geiste deutscher Autoren. Gibt es da vielleicht Parallelen?
So weit würde ich nicht gehen. Auffällig ist aber: Die Romantiker sahen die Wahrheit verborgen im Ursprünglichen und in vergangenen Zeitaltern, als der Mensch in ihren Augen noch nicht völlig vom Rationalen „verseucht“ war. Sie verklärten deswegen die Antike, mittelalterliche Sagenwelten und auch exotische Länder. Genau diese Themen finden sich in der Mehrzahl an Spielen wieder. Spielethemen entstehen nur selten im Kopf der Spiele-Autoren, sondern eher auf den Schreibtischen der Redaktionen. Und die beruft sich darauf, was der Käufer erfahrungsgemäß bevorzugt. Romantik im Spiel hilft auch immer dabei, einer Entzauberung des Alltags entgegenzuwirken.
Vielleicht entspricht dies dem Zeitgeist einer modernen Romantik 2.0 mit Begriffen wie Hofladen, Entschleunigung und einer wachsenden Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, wenn heute alles digital, vernetzt und unübersichtlich ist.
Vielleicht spreche ich deswegen so gerne von einem „Spielgefühl“.
Aber ganz sicher ist es im Sinne der Romantik, wenn ein gutes Spiel die Trennung von Spielmechanik und Spielthema aufzuheben und zu einem wunderbaren Gesamtwerk vereinen mag. Denn das war schon immer ihr Ziel.
Guido Heinecke