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Mannheim 2024: vom eigenen Text über den Spielbrettrand hinaus

TdB

Wenn man so möchte, war es eine Veranstaltung über Blicke. 75 Spielekritiker:innen waren zum dritten Tag der Brettspielkritik gekommen, der in Mannheim stattfand. Und sie alle waren da, um einmal nicht unbedingt nur Spiele zu betrachten. Sondern in Arbeitsgruppen, Podiumsgesprächen und Gesprächsforen ihre eigenen Texte, Podcasts und Videos. „Wer über Spiele kritisch spricht, muss sich dabei auch bewusst sein, dass er wie ein Journalist rezipiert wird – und ganz egal, ob man sich selbst als solcher versteht oder nicht“, leitete Spiel des Jahres-Geschäftsführer Guido Heinecke die Veranstaltung in seiner Einführungsrede ein.

Videos zum Tag der Brettspielkritik ➜
Podcast zum Tag der Brettspielkritik ➜

Heinecke, Bladukas

Guido Heinecke (Spiel doch) und Efka Bladukas (No Pun Included) plädieren für einen New Boardgame Journalism

„Heutzutage sollte sich jeder Medienschaffende – egal ob Journalistin, Influencer oder Podcasterin – dieser Verantwortung bewusst sein. Und sich damit auch als anfänglicher Laie dafür interessieren, das eigene Handwerk zu verbessern.“ Gleichzeitig plädierte Heinecke für mehr Diskurs unter Brettspielkritiker:innen: „Wer echten Spielejournalismus betreiben will, der soll wissen, was die Kollegen sagen und urteilen – und darf auch die intramediale Kontrollfunktion, die jedem Medienschaffenden zusteht, ein Stück weit ausüben.“
In seiner Keynote ergänzte Efka Bladukas, der den renommierten englischen YouTube-Kanal „No Pun Included“ betreibt: „Wir müssen Expert:innen der Brettspielkritik werden.“ Er plädierte dafür, das Brettspiel als Kulturgut zu sehen – und in der Brettspielkritik auch zu erkunden, wo und wie das Spiel kulturell einzuordnen sei.

Podiumsdiskussion

Brettspiel in Bild und Ton: Nicola Balkenhol (Deutschlanradio), Stephan Kessler (Brettagoge), Christian Köhne (Format C) und Nico Wagner (Brettagoge) im Gespräch

Genau dies waren auch die zwei Blickrichtungen, die in der Folge in den einzelnen Arbeitsgruppen und Foren vertieft wurden: der Blick in den eigenen Text und der Blick über den Rand des Spielbrettes hinaus.

Praktische Tipps

Dafür gab es auch praktische Tipps: Spiel des Jahres-Jurymitglied Maren Hoffmann beschäftige sich in ihrer Arbeitsgruppe „Diamantschliff – Teaser funkeln lassen“ mit Überschriften und der Frage, wie sich das Publikum damit überzeugen lässt, sich eine längere Kritik anzuschauen. Beides müsse deutlich machen, worum es in dem Text geht und die Aufmerksamkeit der Leser fordern. „Ein guter Text ist meistens Teamwork“, hieß es bei ihr – sie regte eine gemeinsame „Teasercheck“-Gruppe für die Teilnehmenden an.

Podiumsdiskussion

Andreas Becker (Spielbox), Maren Hoffmann (Spiegel), Karsten Grosser (Neue Osnabrücker Zeitung), Fabian Ziehe (SWR) und Daniel Wüllner (Süddeutsche Zeitung) debattieren über Brettspielkritik heute

Der SWR-Journalist Fabian Ziehe stellte in seiner Arbeitsgruppe „Kurz, lebendig und verständlich formulieren“ seine „7 ½ Punkte für gutes Texten“ vor. „Permanente Störungen sind die Regel“, sagte Ziehe. Weil die Aufmerksamkeit des Publikums ständig gehalten werden muss, seien einfach Sätze und starke Verben das Mittel der Wahl. Man solle die Leser:innen „lieber durch Texte führen als drängen“. Auch sich selbst den Text laut vorzulesen, könne hilfreich sein.
Daniel Wüllner, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, beschäftigte sich mit Textstruktur. „Eine gute Struktur“, so Wüllner, „hilft den Lesenden, Orientierung zu finden“. Er plädierte dafür, auch mal mit Strukturen zu experimentieren – ein Fazit oder eine Spielewertung müsse nicht immer am Ende eines Textes stehen.

Podiumsdiskussion

Was macht das Spiel mit den Menschen? Valentin Köberlein und Sarah Klöfer (Uni Konstanz) sowie Tobias Franke (fjelfras.de), Wiebke Waburg (Uni Koblenz) und André Maack (Ravensburger) sprechen über Realität und Theater, Diversität und Kolonialismus

Aber die Inhalte müssen auch ans Publikum gebracht werden: „Die Hälfte eines Podcasts ist Inhalt, die andere Hälfte Distribution“, sagte Deutschlandradio-Journalistin Nikola Balkenhol während des anschließenden Podiumsgespräches. „Ich muss die Nutzungszahlen nicht nur regelmäßig anschauen, sondern auch verstehen.“
Sowohl YouTuber Christian Köhne als auch die Podcaster und Jurymitglieder Niko Wagner und Stephan Kessler plädierten für mehr Mut zum Experiment: „Das ist auch meine Bühne, auf der ich Dinge ausprobieren darf“, so Köhne. Wagner meinte, ein Podcast könne – statt einer trockenen Spieleerklärung mit Bewertung – „dem Publikum die Emotion und das Erlebnis näher bringen“.

Schrapers

Harald Schrapers (Spielbox) weist auf den Zusammenhang zwischen dem Kulturgut Spiel und dem Kulturgut Spielen hin: Es geht um das Game und das Play

Allerdings dürfe, sagte Maren Hoffmann in der anschließenden Podiumsdiskussion, die Zugänglichkeit nicht leiden. Eine gute Spielrezension sei „wie ein Jump ’n’ Run-Spiel“, und so ermutigte sie: „Man muss den Leser immer auf die nächste Ebene mitnehmen.“ Hoffmann sieht jedenfalls ein „goldenes Zeitalter der Brettspielkritik“ heraufziehen. „Die Kritiken werden uns aus den Händen gerissen“, sagte sie. Grund sei in Zeiten der multiplen Krisen das Bedürfnis der Menschen nach Eskapismus und Handlungsfähigkeit. Andreas Becker, Chefredakteur der Spielbox, ist da nicht so optimistisch: Die Verkaufszählen gingen zwar nach oben, aber man müsse abwarten, ob sich dieser Trend verfestigt.

Auf der anderen Seite des Spielbretts

Nach dem Blick auf die eigene Produktion war der Nachmittag dem Blick in die Kontexte gewidmet: Diversität, Kolonialismus, Spiel und Realität sowie Spiel und Theater standen auf dem Programm. „Meine Mission: Spielen für alle“, sagte Wiebke Waburg, Professorin für Pädagogik an der Universität Koblenz, in ihrer Diskussionsrunde zum Thema Diversität in Spielen. Unterschiedliche Perspektiven müssten als bereichernd und nicht als defizitär angesehen werden. „Es geht immer auch um die Wertschätzung von Ressourcen“, sagte Waburg. Hier sei Selbstreflexion wichtig – Spiele bildeten oft wenig diverse Figuren ab. „Wie können wir mit unserer Arbeit dazu beitragen, dass sich etwas ändert?“ sei, so Waburg, eine wichtige Frage für Brettspielkritiker:innen. „Die Gesellschaft verändert sich, aber es ist noch viel zu tun“, ergänzte sie im Podiumsgespräch. Ähnlicher Ansicht war auch André Maack, Game Development Manager bei Ravensburger: „Da sind noch viele Hausaufgaben zu machen. Für alle Verlage“, sagte er.

Wirag

Spiel und Kulturkritik: Lino Wirag (utopia.de) möchte, dass Brettspiele gelesen und interpretiert werden

Spiele spiegelten immer auch einen Zeitgeist, erklärte Valentin Köberlein, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Konstanz, und habe auch immer etwas mit der „gelebten Realität außerhalb des Spiels“ zu tun. Spielkritik könne deshalb auch Gesellschaftskritik sein.
Das Spiel hat auch Berührungspunkte mit dem Theater, erklärte Sarah Klöfer, ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Konstanz: „Die Gemeinsamkeit von Spiel und Theater ist, dass sie flüchtig sind.“ Kein Spiel sei wie das andere, keine Theateraufführung sei eine exakte Wiederholung. Aber: „Ich habe im Spiel eine viel größere Selbstwirksamkeit als im Theater.“

Und darüber hinaus

Noch weiter vom Spielbrett blickte Kulturwissenschaftler Lino Wirag in seinem Abschluss-Impuls: „Wir haben uns noch nicht daran gewöhnt, dass Brettspiele gelesen werden können“, erklärte er. „Und mit Lesen meine ich: Interpretation.“ Als Kulturgut würden sie sich nicht von Büchern, Filmen oder Theater unterscheiden. Wer ein Spiel kritisiert, trete damit in ein Verhältnis. Wirag lieferte in seinem Impuls auch gleich einen Schwung „Cheat-Fragen“ mit, die die Interpretation eines Spieles einfacher machen können: Psychologische Lesarten seien möglich, die Frage, was dieses Spiel einzigartig mache. Man könne sich auch fragen, was noch niemand anders an dem Spiel gesehen habe. Für ihn seien das alles wichtige Werkzeuge im Handwerkskoffer von Kritiker:innen.

Klinge, Ullmann

Heiko Klinge (Gamestar) und Katrin Ullmann (Nachtkritik) sorgen für den Blick über den Spielbrettrand: vom Videogame zum Theaterspiel

Ähnlich sah es in der Abschlussdiskussion auch die Theaterkritikerin Katrin Ullmann: „Die Interpretation ist die wichtigste Zutat an einer Theaterkritik“, sagte sie. Heiko Klinge, Gamestar-Chefredakteur und Computerspielkritiker, mahnt hier allerdings zur Vorsicht: „Unser Job ist es in erster Linie, den Leuten dabei zu helfen, ihre wertvolle Freizeit zu gestalten“, riet er. Allerdings: „Es ist nicht zuträglich, wenn man nur auf die Zahlen schaut.“ Es gebe ganz unterschiedliche Möglichkeiten, sich einem Medium zu nähern.
Einen optimistischen Schluss gab Maren Hoffmann den auf Einladung des Spiel des Jahres e.V. in den Delta Park Mannheim gekommenenen Teilnehmenden mit: „Ihr seid die Speerspitze des goldenen Zeitalters der Brettspielkritik!“

Jan Fischer