„Die Jury hat vor, dich zusammen mit Helmut Wresnik in ihren Kreis aufzunehmen. Kannst du dir vorstellen, dich dieser Aufgabe zu stellen?“ Diese Frage stellte Ende Mai 1994 der leider viel zu früh verstorbene Hans-Christian Winters, der damals Mitglied im Vorstand der Jury „Spiel des Jahres“ war. Vor 25 Jahren musste ich nicht lange über meiner Antwort grübeln. Ich bin sicher, heute würde ich mir Bedenkzeit erbitten.
Blick zurück in mein erstes Juryjahr
Mitte der 90er Jahre konnte die spielbox mit nur sechs Heften im Jahr ziemlich vollständig auf alle relevanten und auch eine Reihe der weniger wichtigen Spiele eingehen. Als Juror hatte man etwa 60 bis 80 Spiele in den Blick zu nehmen und behielt damit das gesamte Spektrum vom Kinderspiel bis zum Expertenspiel im Blick, wobei anspruchsvollere Spiele sehr rar waren. Da es in dieser Phase nur den Hautpreis Spiel des Jahres gab, deckte die Jury mit einer Flut von Sonderpreisen viele Bereiche ab. Der Sonderpreis Schönes Spiel existierte von 1979 bis 1997, ab 1989 wurde der Sonderpreis Kinderspiel verliehen, der dann 2001 durch das Kinderspiel das Jahres abgelöst wurde, das damit gleichberechtigt neben dem Spiel des Jahres mit Empfehlungen und Nominierungen vergeben wurde. In meinem ersten Wahljahr 1995 gab es einen Sonderpreis „Puzzle“, in den Folgejahren standen Geschicklichkeitsspiele wie „Carabande“ und „Husarengolf“ im Fokus. Spätere Akzentsetzungen wie die Sonderpreise „Komplexes Spiel“ für „Agricola“ und „Caylus“, „Neue Spielwelten“ für „Space Alert“ und – der Gipfel unserer Kreativität – der Sonderpreis „Spiel des Jahres plus“ für „Die Tore der Welt“ bereiteten die Einführung des Kennerspiel des Jahres im Jahr 2011 vor.
Obwohl in den 90er Jahren jeder Juror das gesamte Spielespektrum zu sichten hatte, war diese Aufgabe mit entsprechenden Spielgruppen im Rücken gut zu schaffen. Der Spieleturm, der in einem Jahr abzubauen war, besaß eine überschaubare Höhe von vier Metern. Umgerechnet ergibt das für die heutigen Anforderungen mit über 400 Spielen im Kinder-, Familien- und Kennerbereich einen Turm in Hochhaushöhe mit acht Stockwerken. Was früher kurzweiliges Vergnügen war, kann in Zeiten von Legacy-Spielen und langfristig angelegten Kriminalfällen ein Vielfaches an abendlichen Stunden kosten. Spaß macht es zwar immer noch, aber der zeitliche Aufwand ist inzwischen etwa viermal so hoch wie in den 90er Jahren.
Im Jahr meiner Aufnahme in die Jury „Spiel des Jahres“ hatte Synes Ernst den Vorsitz von Bernward Thole übernommen, der den Verein seit Beginn leitete. Dem Schweizer Journalisten Ernst waren neue Visionen für die Jahrtausendwende wichtig. Juryintern richtete er eine Arbeitsgruppe „Jury 2000“ ein, an der ich beteiligt war, die Weichenstellungen für neue Strukturen, wie den eigenständigen Preis für die Kinderspiele, und Veränderungen bei der Preisvergabe in Richtung Oscar-Verleihung vornahm. In Göttingen appellierte er während des Autorentreffens 1995 an die Spieleautoren und Redakteure: „Fordert uns Spieler heraus! Mutet uns mehr zu!“
Anlass für seine Rede in der Stadthalle Göttingen war die Präsentation der Nominierungsliste für das Spiel des Jahres 1995. In dieser Zeit galten noch alle Spiele auf der Liste als nominiert, nach der Preisverleihung landeten sie erst auf der Empfehlungsliste. Viele interpretierten damals den Appell des Vorsitzenden der Jury, dass nicht die hoch gehandelten Spiele „Linie 1“, „Medici“ oder „Die Maulwurf-Company“ Spiel des Jahres werden würde, sondern das herausforderndere „Die Siedler von Catan“. In manchen Diskussionen in diesem Zeit traute man der Jury die Entscheidung für „Catan“ nicht unbedingt zu. Viele hielten Teubers Spiel für zu anspruchsvoll für ein Spiel des Jahres; dem allerdings zugutekam, dass der Verlag seine Regel auf einer schachtelgroßen Seite unterbringen konnte. Im Juli wurde dann auf einer Pressekonferenz in Berlin der Schleier gelüftet und das „Jahrhundertspiel“ von Klaus Teuber als Spiel des Jahres präsentiert. Harald Hemmerlein kommentierte im Editorial der spielbox, es gebe Stimmen, die behaupten, dass die Jury mit dieser Entscheidung am breiten Publikumsgeschmack vorbeiziele. Man sagte den „Siedlern“ ein ähnliches Schicksal wie „Um Reifenbreite“ voraus, das auch nicht die Stückzahlen erreicht habe, für die gewöhnlicherweise ein Spiel des Jahres gut sei.
Die Skeptiker sollten sich irren. Das deutsche Publikum ließ sich gerne zu neuen Ufern mitnehmen, der weltweite Erfolg der German Games begann auf Hex-Plättchen, die den Bau von immer wieder neuen Spielplänen für Siedlungen, Städten und Straßen ermöglichten. Ein „Catan“-Universum startete 1995 von der kleinen hessischen Gemeinde Roßdorf aus, wo Klaus Teuber als Zahntechnikermeister ein Dentallabor leitete. Vier Jahr später war Teuber neben Wolfgang Kramer der zweite deutsche Autor, der hauptberuflich von seinen kreativen Spielentwürfen leben konnte.
Dass nicht einmal der Verlag hundertprozentig vom Erfolg des Spiels überzeugt war, zeigte sich an der Preisverleihung, die im Rahmen eines Spielefestes im September in Frankfurt statt. Anstatt auf die Strahlkraft der „Catan“-Sonne zu setzten, lud Kosmos unnötigerweise den Satiriker Ephraim Kishon als Stargast ein, der mehr sich und ein neues Buch als das Spiel promotete. Immerhin taucht er dann vier Jahr später, unterstützt durch Jürgen Grunau, als Spielautor des Stuttgarter Verlags im „Blaumilchkanal“ auf – und schnell wieder unter.
Die klägliche und für dieses Ausnahmespiel unwürdige Frankfurter Veranstaltung führte zu deutlichen Veränderungen der Planungen der Jury. Die Konsequenzen, die der Verein zog, prägen noch heute die Form der Preisverleihung, die nicht mehr getrennt durchgeführt wurden, sondern ab 1996 kompakt an einem Tag im Juli in Berlin stattfand.
Mit dem Votum für „Catan“ in die verantwortliche Tätigkeit eines Jurymitglieds starten zu dürfen, war ein Geschenk. Die „Mutet uns mehr zu“-Aufforderung unseres Vorsitzenden nahmen die meisten von uns gerne an, waren wir doch alle begeisterte Spieler. Nur so ist das Votum ein Jahr später für das noch anspruchsvollere „El Grande“ zu erklären. Ein komplexes Kennerspiel, das zudem mit einem Preis von 80 DM nicht unbedingt familien-, dafür aber spielertauglich war.
Nach 25 Entscheidungen von „Catan“ bis zu „Just One“ ziehe ich mich aus der Jury zurück. In Anbetracht der Hochhäuser, die es inzwischen zu bespielen gilt, fällt mir diese Entscheidung nicht allzu schwer. Ab sofort muss ich nicht mehr alle relevanten Spiele spielen, ich darf es aber immer noch, bewege mich aber in Zukunft numerisch eher auf dem Niveau der 90er Jahre, wenn ich weiterhin mit 80 Spielen durch das Jahr wandere.
Wieland Herold